Edouard Carmignac greift zur Feder und kommentiert aktuelle wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Herausforderungen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
das Ende der Pandemie ist – endlich! – in Sichtweite und stellt uns vor eine noch nie dagewesene Situation. Über ein Jahr lang stand unser Leben auf dem Kopf und ganze Wirtschaftszweige wurden lahmgelegt. Dank der Impfkampagnen, die je nachdem, ob wir in den USA, in Europa, in China oder in einem Schwellenland leben, unterschiedlich schnell voranschreiten, können wir bald wieder mehr Freiheiten genießen.
Wie stark und von welcher Dauer wird der so ersehnte Aufschwung sein? Wir werden es in den kommenden Monaten nicht nur mit einem stark angewachsenen Sparvolumen zu tun haben, sondern auch mit riesigen Konjunkturprogrammen am Ende der Krise in den USA und in Europa. Insgesamt belaufen sich die Konjunkturprogramme auf 13,6% des BIP in den USA und 6% des BIP in Europa. Auch im nächsten Jahr sind auf beiden Seiten des Atlantiks umfangreiche Infrastrukturprogramme geplant, mit denen die Erholung der Wirtschaftstätigkeit unterstützt werden soll.
Diese umfangreichen Stützungsprogramme am Ende der Krise überraschen, da sie der orthodoxen Finanzpolitik widersprechen. Durch die wachsende Staatsverschuldung während der Pandemie wird die Anhäufung weiterer Haushaltsdefizite durch unsere Regierenden politisch akzeptabel. Um die Zwischenwahlen im November 2022 zu gewinnen, sprengt Joe Biden den Haushalt. Etwas gemäßigter macht sich Europa bereit, vor den Wahlen, die für die CDU in Deutschland (im Oktober) und für Emmanuel Macron in Frankreich (im Mai 2022) schwierig werden dürften, den Geldbeutel weiter zu öffnen. Politisch gerechtfertigt wird die Fortsetzung dieser teuren Konjunkturprogramme mit den beiden Zielen, die Gesundheit der Menschen zu schützen und Arbeitsplätze zu erhalten. Solange die Inflation gemäßigt bleibt, wird die Frage, ob die Haushaltsdefizite tragbar sind, von den gefügigen Zentralbanken weggewischt. Mehr noch, Jerome Powell, Präsident der Fed, will seine lockere Geldpolitik auch bei einer vorübergehend steigenden Inflation am Ende der Pandemie beibehalten. Das Prinzip der unbefleckten Empfängnis, das durch COVID-19 in den Finanzen eingeführt wurde, scheint sich länger zu halten als geplant.
Ist die Euphorie der Märkte aufgrund dieser geld- und fiskalpolitischen Konjunkturspritzen, die bei der Wiederöffnung unserer Volkswirtschaften verabreicht wurden, gerechtfertigt? Den Unternehmensergebnissen kommt der Konjunkturaufschwung zweifelsohne zugute. Die Kurse könnten jedoch durch steigende Zinsen und einen drohenden anhaltenden Inflationsanstieg in Mitleidenschaft gezogen werden. So könnten die Zinsen in den nächsten Wochen durch die Veröffentlichung gestiegener Wirtschaftsindikatoren in Verbindung mit einem alarmierenden Inflationsanstieg weiteren Auftrieb erhalten. Es ist an uns, diese Daten genauestens unter die Lupe zu nehmen und zu beurteilen, ob dieser Preisdruck von Dauer sein wird. Und wenn die Inflation – wie wir glauben sollen – am Ende der Pandemie unter dem strukturellen (demografischen, technologischen) Deflationsdruck, zu dem sich eine ungeahnt langwierige Bekämpfung von COVID-19 auf globaler Ebene gesellen könnte, wieder ein gemäßigtes Niveau erreicht, könnten sich die Aktienmärkte dank der Attraktivität der unbefleckten Empfängnis in ungeahnte Höhen aufschwingen.
Mit freundlichen Grüßen